Schwelende Konflikte, trügerische Ruhe

Vor gut 30 Jahren explodierte die Gewalt auf dem Balkan. Wie ist die Lage heute? Die Historikerin Marie-Janine Calic warnt davor, die Region in Vergessenheit geraten zu lassen.

Ein Stuhl für jeden Toten

Fast vier Jahre lang, zwischen 1992 und 1996, war die bosnische Stadt Sarajevo von bosnisch-serbischen Einheiten eingekesselt und unter ständigem Beschuss. Mehr als 11.500 Einwohner fanden den Tod. 20 Jahre danach, im April 2012, erinnerte eine „rote Linie“ von Stühlen im Stadtzentrum an die Entfesselung der Gewalt.

© Dado Ruvic / Reuters / Picture Alliance

Diese Stille. Diese unheimliche Abwesenheit von gewohnten Geräuschen. Das ist es, was Marie-Janine Calic als erstes einfällt, wenn sie sich daran erinnert, wie sie vor 30 Jahren durch die vom Krieg zerstörte Herzegowina fuhr. Da waren keine Autos unterwegs, keine Traktoren auf den Feldern. Erst wenn keine Motoren zu hören sind, fällt auf, wie sehr sie zur Alltagsnormalität in Europa gehören, erzählt Calic: „Und dann fährt man in diese Stadt Mostar und sieht nur Ruinen. Und in den Ruinen Menschen, die da regungslos sitzen. Furchtbar.“

Die Historikerin war 1995 Beraterin des UN-Sondergesandten Yasushi Akashi, der helfen sollte, eine Friedenslösung für die Länder zu finden, in die das frühere Jugoslawien zerfallen war. Sie hat ihre Expertise als Geschichtswissenschaftlerin damals gerne eingebracht. Heute wiederum profitiert sie bei ihren Analysen davon, dass sie Zeitgeschichte hautnah miterlebt hat. Sie lese und höre immer wieder Einschätzungen von Menschen, „die von der Praxis sehr weit entfernt sind“, erklärt sie.

Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte fürchtet die Historikerin Marie-Janine Calic, dass die Region noch lange durch ungelöste Konflikte gelähmt bleibt.

© Florian Generotzky / LMU

Gefährliche Ignoranz

Aktuell macht ihr die Stille Sorge, die sie in Deutschland erlebt, wenn es um den Balkan geht. Es sei zwar verständlich, dass die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, findet Calic. Doch wenn dadurch andere instabile Regionen aus dem Blick geraten, hält sie das für „kurzsichtig, besorgniserregend“. Denn nur weil es gerade keine bewaffneten Auseinandersetzungen gibt, müsse man sich um die schwelenden Konflikte doch kümmern, besonders, wo doch der Balkan eine Schlüsselregion für Europa sei. „Es sollte eine Lehre aus dem Jugoslawienkrieg sein, dass man proaktiv und präventiv Konflikte angeht in diesen Regionen und nicht, wie jetzt, erst mal alles wieder schleifen lässt“, sagt Calic.

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Gefährlich sei die Lage vor allem in dem Land, das Calic „Dayton-Bosnien“ nennt. Auf einer Militärbasis nahe der US-amerikanischen Stadt Dayton wurde 1995 ein Abkommen unterzeichnet, das den Staat Bosnien-Herzegowina begründete. Der Vertrag beendete einen Krieg, der dreieinhalb Jahre gedauert und mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet hatte. Doch die Konflikte, die hinter dem Krieg standen, seien nicht ausgeräumt, ist Calic überzeugt: „Diesen Staat will eigentlich niemand haben.“

Ein Großteil der serbischen Bewohner des multiethnischen Staates verlange mehr Unabhängigkeit von der Regierung in Sarajevo. Die Bosniaken hingegen wollten mehr Zentralismus. Im kroatischen Teil der Bevölkerung wiederum gebe es viele Forderungen nach mehr Föderalismus. Die Einwohner Bosnien-Herzegowinas grenzten sich dabei nicht nur nach ihrer ethnischen Herkunft und unterschiedlicher Sprachvarianten voneinander ab, sondern auch nach Religionszugehörigkeit: Kroaten sind oft römisch-katholisch, Serben serbisch-orthodox und Bosniaken muslimisch. Gerade in puncto Religion beobachtet Calic Entwicklungen, die sie gefährlich findet: Etwa, dass unter den Bosniaken der Wahabismus vermehrt Anhänger findet, eine puristische Auslegung des Islam, die vor allem in Saudi-Arabien verwurzelt ist.

Rückblende 1992

Im belagerten Sarajevo zu leben, war brandgefährlich. Die sogenannte Sniper Alley versuchten die Einwohnerinnen und Einwohner so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Denn wer sich dort blicken ließ, wurde leicht zum Ziel von Heckenschützen.

© Paul Lowe / VII / Redux / laif

Rückblende 1995

Das Massaker im bosnischen Srebrenica gilt als grausamer Höhepunkt des Jugoslawienkrieges. Bosnisch-serbische Einheiten ermordeten rund 8.000 Jungen und Männer, die meisten bosnische Muslime. Noch gut 20 Jahre später wurden Opfer identifiziert und zur Gedenkstätte und zum Friedhof im nahe gelegenen Potocari überführt. Angehörige trauern am Sarg, 2016.

© Andrew Testa / NYT / Redux / laif

Ebenfalls für explosiv hält Calic die Lage im Kosovo. Das Land wird auch als „De-facto-Staat“ bezeichnet, weil es zwar von einer Mehrheit der UN-Mitglieder anerkannt wird, aber bei weitem nicht von allen. Auch fünf EU-Staaten erkennen Kosovo nicht als souveränen Staat an: Neben der Slowakei und Rumänien verweigern Griechenland, Spanien und Zypern eine solche Anerkennung.

Unruhiges Brodeln beobachtet Calic auch in Serbien. Und überall in der Region werden immer wieder Grenzen in Frage gestellt. Offiziell herrsche bei Grenzfragen zwar Stabilität. Doch etwa Albanien sei typisch für die Lage auf dem Balkan, erklärt Calic: „Das Land würde offiziell niemals sagen, dass es Ansprüche auf Nachbarregionen erhebt. Aber nicht nur bei vielen Menschen, sondern auch in der politischen Klasse ist das doch ein Thema.“

»Es sollte eine Lehre aus dem Jugoslawienkrieg sein, dass man proaktiv und präventiv Konflikte angeht in diesen Regionen und nicht, wie jetzt, erst mal alles wieder schleifen lässt.«

Marie-Janine Calic

Woher kommt es eigentlich, dass der Balkan so zerrissen ist, eine so wechselvolle und gewaltgetränkte Geschichte hat? Marie-Janine Calic hält diese simple Frage keineswegs für naiv. Sie sieht vor allem einen Faktor, den sie „Scharnierfunktion“ nennt. Schon vor 2000 Jahren prallten in der Region verschiedene Mächte aufeinander. Konstantinopel wurde nach dem Zerfall des römischen Reiches Herrschaftszentrum von Ostrom und geistliches Zentrum orthodoxer Christen. Die Metropole erhielt später den Namen Byzanz, wurde 1453 von den muslimischen Osmanen erobert, die von diesem Brückenkopf aus weiter Richtung Mittel- und Westeuropa strebten.

Die Namen der Volksgruppen, die immer wieder ihre Siedlungsgebiete wechselten, nicht selten begleitet von Gewalt und Vertreibung, ist lang: Bulgaren, Serben, Kroaten, Slowenen, Bosniaken, Albaner, Griechen, Mazedonier, Türken sind nur einige. Und immer wieder hatten die Mächte, die ihre Interessenskonflikte auf dem Balkan austrugen, ihr Zentrum ganz woanders: in Venedig oder Wien.

Die jahrhundertelange Rolle als geostrategischer Zankapfel und die lange Zeit der Fremdbestimmung schürten etwas, was bis heute Konflikte anheizt: Einen Nationalismus, der Streben nach Selbstbestimmung oft mit dem Kampf gegen andere Nationalitäten verknüpft.

Die Lage im Kosovo bleibt explosiv: Soldaten der NATO-Mission KFOR in Auseinandersetzung mit serbischen Protestierenden, Gemeinde Zvecan, Mai 2023.

© Laura Hasani / Reuters / Picture Alliance

Dieses Aggressionspotenzial habe die nationalistischen Bewegungen auf dem Balkan aber keineswegs schon immer geprägt, betont Calic: „Die nationale Idee war ja eine Emanzipationsidee, eine bürgerliche Idee. Das waren auch nach unseren heutigen Maßstäben fortschrittliche Leute, die sich für Unabhängigkeit, Gleichberechtigung und Ideale der Französischen Revolution eingesetzt haben.“ Als Bosniake gegen den Sultan in Konstantinopel aufzubegehren oder als Serbe gegen den Kaiser in Wien, war nicht automatisch mit Feindseligkeit gegenüber Menschen in der eigenen Nachbarschaft verknüpft.

Scharfmacher Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, der serbisch dominierten Teilrepublik Bosnien-Herzegowinas | © Armin Durgut / AP / Picture Alliance

Aggressiver, chauvinistischer Nationalismus

Ab einem gewissen Zeitpunkt dann sieht Calic etwas, das sie „Umklapp“ nennt: „In einen aggressiven, rückwärtsgewandten, chauvinistischen Nationalismus“. Die jeweils eigenen Traditionen und Überlieferungen, Bräuche, Liedgut, Literatur, Religion wurden nicht nur betont, sondern überbetont. Die Abgrenzung von anderen Volksgruppen sollte die eigene Identität stärken. Calic sieht in diesem Nationalismus, der seine Wurzeln vor allem im 19. Jahrhundert hat, einen Wegbereiter des Ersten Weltkriegs. Und er lässt viele Regionen des Balkans bis in die Gegenwart nicht zur Ruhe kommen.

Auch heute werde aggressiver, chauvinistischer Nationalismus von einzelnen Politikern gezielt geschürt, stellt Calic fest. Ein Beispiel sei Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska. Er fordert vehement eine Herauslösung der serbisch dominierten Teilrepublik, an deren Spitze er steht, aus dem Staat Bosnien-Herzegowina. Sie habe Dodik bereits vor 30 Jahren kennengelernt, erinnert sich Calic, „da war er übrigens die große Friedenshoffnung“, fügt sie mit sarkastischem Unterton hinzu. Heute lebt Dodik in einem Dauerkonflikt mit dem Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina, Christian Schmidt, der die Einhaltung der Regeln des Dayton-Abkommens überwachen soll. Im März 2025 hat die Justiz von Bosnien-Herzegowina einen Haftbefehl gegen Dodik erlassen, weil er die Dayton-Regeln missachtet habe.

Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte fürchtet die Forscherin, dass die Region noch lange durch ungelöste Konflikte gelähmt bleibt. Die Welt müsse den Balkan wieder stärker in den Blick nehmen, wünscht sie sich.

Mangel an Ehrlichkeit

Wenn sie allerdings Slogans nach dem Muster „pro-europäische Kräfte stärken!“ hört, ist Calic skeptisch. Sie fände es natürlich wichtig, die Länder, die aus dem früheren Jugoslawien hervorgegangen sind, näher an die Europäische Union heranzuführen, sagt sie. Doch sie fügt sofort hinzu: „Die EU ist meines Erachtens seit Langem nicht mehr ehrlich.“

Es würden gegenüber Serbien, Bosnien-Herzegowina oder Nordmazedonien zwar Annäherungsszenarien oder gar Perspektiven für einen EU-Beitritt entworfen. Doch nicht nur Probleme mit Korruption oder Rechtsstaatlichkeit machten es für die EU-Interessenten schwer, irgendwann in die Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden: „Für die EU wird es immer schwerer, handlungsfähig zu bleiben, wenn sie immer mehr Mitglieder aufnimmt.“ Zumal wenn die Aufnahme für EU-interne Konflikte sorgt.

So hat Griechenland jahrelang einen Namensstreit mit dem Land ausgetragen, das heute Nordmazedonien (und nicht wie zunächst reklamiert Mazedonien) heißt. Aber auch Bulgarien trägt Konflikte mit Nordmazedonien aus: „Die Regierung in Sofia verlangt von den Mazedoniern anzuerkennen, dass ihre Sprache und Geschichte bulgarisch sind. Absurd“, erklärt Calic.

Und was macht ihr Hoffnung? „Der Blick auf die Geschichte“, antwortet die Marie-Janine Calic, die Geschichte zu ihrem Beruf gemacht hat. | © Florian Generotzky / LMU

Jenseits der Nationalitäten

Was für einen Umgang mit nationaler Herkunft würde die gebürtige Berlinerin sich wünschen? Gerne einen, wie sie ihn für sich selbst pflegt. Ihr Vater war Kroate, ihre Mutter ist Deutsche. Auch über sich sagt Calic: „Natürlich bin ich Deutsche.“ Neben Deutsch spricht sie Kroatisch und Serbisch. Auch mit Mazedonisch kommt sie zurecht. „Bulgarisch und Russisch kann ich lesen“, sagt sie, ohne damit prahlen zu wollen. Dass sie fließend Englisch und Französisch spricht, ist ihr gar keine Erwähnung wert.

Ihre internationale Biografie schützt sie allerdings nicht davor, dass andere sie auf eine Nationalität verengen. Deshalb bekam sie in ihrer Zeit als Beraterin in den Konfliktgebieten Ex-Jugoslawiens Mitte der 1990er-Jahre die Empfehlung, bestimmte Regionen nicht zu bereisen: „Wegen meines Namens. Denn ich könnte ja vielleicht als Kroatin identifiziert und gefangengenommen werden.“

An ihrem Namen lässt sich gleichzeitig sehen, wie entspannt sie selbst mit dem Thema Herkunft umgeht. Auf die Frage, ob nun die Aussprache „Kalitsch“, Tschalitsch“ oder „Kalik“ für ihren Familiennamen die richtige sei, sagt die Historikerin mit einem Schulterzucken: „Ich höre auf alles.“

Auf die Frage, was ihr Sorgen bereitet, kann Calic vieles aufzählen. Und was macht ihr Hoffnung? „Der Blick auf die Geschichte“, antwortet die Frau, die Geschichte zu ihrem Beruf gemacht hat. „Weil ich sehe, dass es in der Region sehr viel Potenzial gibt. Zu allen Zeiten gab es dort kluge Leute, die eine Vision hatten, die Mut hatten und die Länder vorangebracht haben.“ Und was brauchen diese klugen Leute? „Möglichst wenig Einmischung. Am besten hatte es der Balkan immer dann, wenn es möglichst wenig Einflussnahme von außen gab.“ Unterstützung ja, aber keine Instrumentalisierung für machtpolitische Ziele Dritter, sagt Calic. Die habe schon zu unendlich viel Kampf und Leid geführt.

Marie-Janine Calic ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der LMU. Im Herbst erscheint bei C.H.Beck ihr neues Buch Balkan-Odyssee, 1933-1941. Auf der Flucht vor Hitler durch Südosteuropa.

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